Die Geschichte vom Schlump

 

Es war einmal ein Knecht, der arbeitete jeden Tag von früh bis spät und wenn er abends in die Federn kroch, tat ihm jeder Knochen einzeln weh. So ging das Jahr aus, Jahr ein und er bekam niemals ein gutes Wort von seinem Herrn zu hören. Jeden Abend, wenn er endlich in seinem Bett lag, wünschte er sich, sein Leben wäre anders und er wäre kein Knecht, aber so sehr er auch wünschte, nichts änderte sich. Morgens schleppte er sich aus dem Bett, arbeitete den ganzen Tag und abends fiel er wieder müde und leer ins Bett zurück.

Eines Morgens erwachte er und fühlte, dass etwas anders war. Er versuchte auf zu stehen und stellte fest, dass er alle seine Knochen verloren hatte. Kein einziger war mehr in seinem Körper er war nur noch ein schwabbliger knochenloser Sack.

Nichts war nun mit ihm anzufangen – er konnte keine Arbeit mehr verrichten und da keiner wusste, was mit ihm geschehen sollte füllte die Magd ihn in einen leeren Nachttopf und stellte ihn auf die Bank vor dem Haus.

Da stand er nun. So mancher Wanderer ließ sich auf die Bank neben ihm nieder, aber sobald er ein Gespräch anfangen wollte erschraken die meisten ob des sprechenden Nachttopfs und nahmen Reißaus. Und wenn einer nicht Reißaus nahm, so rümpfte er doch die Nase, denn wer wollte sich schon mit einem Nachttopf unterhalten. So geriet er immer mehr in Vergessenheit und bald erinnerte sich keiner mehr seines Namens und wenn dennoch von ihm gesprochen wurde, so nannte man ihn nur „den Schlump“. Und weil keiner mehr mit ihm sprach verlernte er zu sprechen, und weil er nichts mehr zu sagen hatte, verlernte er zu denken und je mehr die Sonne in seinen Topf schien, desto mehr vertrocknete und zerbröselte er und als dann eines Tages ein sintflutartiger Regen hernieder ging, schwemmte es den brösligen, braunen Haufen, zu dem der Schlump geworden war zu einer braunen Brühe auf, so dass die Magd, die aus dem Haus kam den Nachttopf angewidert in die Gosse leerte da sie völlig vergessen hatte, wer das einst gewesen war.

So ronn der Schlump, zusammen mit den welken Blättern und dem zu Matsch gewordenen Staub der Straßen die Gosse hinab bis in den Bach und dann weiter von einem Bach zum nächsten, von einem Fluss zum nächsten und schließlich bis in die See, er vermischte sich mit allerlei Dreck, die Fische fraßen ihn an und er verlor sich immer mehr, bis er nicht mehr wusste, wo er war und wer er war.

So wäre der Schlump wohl in den endlosen Weiten des Meeres verschwunden, wenn da nicht ein fleißiger und gutmütiger junger Bauer gewesen wäre, der am Ufer des Meeres lebte und jeden Tag von morgens bis abends hackte und grub um Dämme aufzuschütten und dem Meer Land abzugewinnen, das er roden und beackern wollte. Dieser Bauer nun rang dem Meer just jenes Stückchen ab, an dessen Grund sich die Überbleibsel des Schlump niedergelegt hatten. Und als das Wasser abfloss und die Sonne den Schlamm langsam trocknete, da bemerkte der Bauer die eigentümliche rotbraune Farbe jenes Fleckchens Erde, auf dem der Schlump schon fast in den Boden versickert war und er beschloss, die Erde zu nehmen, zu formen und zu brennen. Und er brannte einen wunderschönen Teller, von dem er fortan essen wollte, aber kaum wollte er den Teller benutzen, zersprang dieser. Da formte er einen herrlich geschwungenen Krug, mit dem er das Wasser vom Brunnen holen wollte, aber als er ihn aufhob, um ihn hinaus zu tragen, zerbrach der Krug. Da wurde der Bauer wütend und nahm die Scherben, brach sie in längliche Stücke und hängte sie an Schnüren in den Baum und wenn der Wind ging schlugen die Scherben aneinander wie ein Glockenspiel und erfreuten endlich den Bauer wenn er nach des langen Tages Arbeit im Schatten des Baumes ausruhte.

Nicht lange, so erschien dem Bauern in der Nacht eine bleiche Gestalt vor seinem Bette, die ihn mit trauriger Mine und sehnendem Blick anstarrte, und der Bauer fürchtete sich sehr und zog die Decke über den Kopf. Die Gestalt jedoch verharrte zu seinen Füßen. Endlich fasste sich der Bauer ein Herz und fragte die Erscheinung: „Was willst Du von mir?“ Diese aber antwortete nur: „Gib mir meine Knochen zurück!“

Der Bauer schüttelte verständnislos den Kopf, schloss wieder die Augen und am Morgen war die Gestalt verschwunden. In der nächsten Nacht, zur selben Stunde sah der Bauer wieder am Fußende seines Bettes den bleichen Gast und wieder fragte er: „Was willst Du nur von mir? Lass mich in Frieden!“ Die Gestalt aber antwortete wieder: „Bitte, gib mir meine Knochen zurück!“ Aber wieder verstand der Bauer nicht und schloss seine Augen vor dem beängstigenden Anblick und am Morgen, als die helle Sonne zum Fenster herein lachte war die Gestalt wiederum verschwunden.

Tags darauf saß der Bauer nach getaner Arbeit wieder unter seinem Baum. Er war besonders fröhlich, da ihm heute ein gutes Tagwerk gelungen war und er ließ sich eine Brotzeit schmecken und gönnte sich sogar ein Schlückchen Wein. Als er da so saß, strich eine leichte warme Brise durch die Zweige des Baumes und das tönerne Glockenspiel, dass er so lieb gewonnen hatte, weil es ihm seinen Feierabend versüßte, begann zu klingen und die Scherben spielten eine Art wundersame Melodie, die der Bauer, ohne sie je vorher gehört zu haben, tief in sich zu kennen glaubte und seine Augen füllten sich mit Tränen und sein Herz füllte sich mit Glück und Wärme und er empfand tiefe Traurigkeit und tiefste Liebe und endlich verstand er die Worte des bleichen nächtlichen Gastes.

In der folgenden Nacht, als ihm erneut die Gestalt erschien und ihn wiederum bat „Bei allem was Dir lieb und teuer ist, hab Mitleid, bitte, gib mir meine Knochen zurück!“ da fragte der Bauer: „Was muss ich tun?“

Da erklärte die Gestalt:

Nimm meine Knochen vom Baum herab und bette sie in weicher Erde und weine Deine Tränen darauf. Wenn Du drei Tage und Nächte daneben wachst und um mich weinst, werde ich erlöst sein.

So tat der Bauer, wie ihn die Gestalt geheißen hatte und nahm das Glockenspiel vom Baum herab, vergrub es in weicher Erde und weinte und wachte drei Tage und Nächte daneben. Als am vierten Morgen die Nacht langsam schwand und schon die erste Morgenröte im Osten erblühte schlief er schließlich ermattet ein.

Und er träumte einen seltsamen Traum. Er saß wieder unter seinem Baum, der Schweiß des harten Arbeitstages rann ihm noch die Stirne hinab und die Knochen taten ihm weh, der Himmel war grau und Wolken verhangen und der Wind pfiff durch die Zweige seines Baumes, allein das Glockenspiel war nicht mehr da und er fühlte sich einsam und plötzlich befiel ihn eine große Angst und er rief: „Wo bist Du?! Lass mich nicht allein!!“

Da spürte er eine zarte Berührung und eine Hand auf seiner Schulter und er erwachte und blinzelte in das Gesicht eines schönen jungen Mannes.

„Was ist passiert?“ fragte der Bauer.

„Du hast wild geträumt und laut gerufen!“ sagte der junge Mann.

„Und wer bist Du?“ fragte der Bauer.

„Man nennt mich den Schlump!“ sagte der junge Mann.

„Den Schlump – ein eigenartiger Name“, sagte der Bauer.

„Ich weiß…“, sagte der Mann, „das Leben gab ihn mir. Wie ist Dein Name?“

„Ich bin …der Bauer!“ sagte der Bauer.

„…der Bauer…“, sagte der junge Mann, „…aber wie ist Dein Name?“

Da dachte der Bauer nach und runzelte die Stirn. Er hatte schon so lange mit keiner Menschenseele mehr geredet, hier draußen in der Einöde, er konnte sich nicht erinnern je einen Namen gehabt zu haben. „Mein Name – ich glaube, ich habe keinen Namen!“ sagte er.

„Jeder hat einen Namen“, sagte der junge Mann.

„Aber ich kann mich an meinen Namen nicht erinnern“, sagte der Bauer, „kannst nicht Du mir einen Namen geben?“

„Oh, sehr gern“, sagte der junge Mann. „Aber damit ich einen Namen für Dich finden kann, müssen wir erst zusammen schaffen.“

Und sie arbeiteten zusammen, gruben Gräben, häuften Dämme auf und am Ende des Tages gingen sie zusammen müde und dreckig aber glücklich über das gemeinsam Geschaffene zurück zur Hütte.

„Hast Du jetzt einen Namen für mich?“ fragte der Bauer.

„Noch nicht“, sagte der junge Mann, „bevor ich einen Namen für Dich finden kann müssen wir erst zusammen sitzen!“.

So holten sie sich etwas zu essen und zu trinken und setzten sich unter den Baum in die Abendsonne und waren zusammen fröhlich und lachten und erzählten sich Geschichten.

Als schließlich die Sonne schon fast untergegangen war fragte der Bauer wieder: „Nun haben wir zusammen geschafft und gesessen, hast Du denn nun einen Namen für mich?“ Und der junge Mann antwortete: „Noch nicht, bevor ich einen Namen für Dich finden kann müssen wir erst zusammen schlafen.“

Da krochen sie beide in die Federn und kuschelten sich in den weichen und gemütlichen Kissen aneinander und wärmten sich gegenseitig und beide fühlten sich geborgen und geliebt wie nie zuvor.

Als am nächsten Tag die liebe Sonne zum Fenster herein blinzelte und den Bauern an der Nase kitzelte erwachte er ausgeruht wie schon lange nicht mehr und wandte sich fröhlich zu seiner Seite, um den jungen Mann zu begrüßen. Der Platz an seiner Seite jedoch war leer und eine große Furcht befiel den Bauern. Da hörte er wieder jene seltsame Melodie und er sprang aus dem Bett und eilte aus dem Schlafzimmer und als er in die Küche kam, da stand der junge Mann schön wie der helle Tag singend am Herd, der duftende Speck brutzelte in der Pfanne und auf dem hübsch gedeckten Tisch standen wunderschöne Blumen. Und als der Bauer seinen Blick von dem herrlichen Tisch wieder hob drehte sich der junge Mann zu ihm um und sagte lächelnd: „Guten Morgen mein Herz!“

Und der Bauer antwortete: „Guten Morgen, meine Liebe.“