Die Geschichte vom Wachsen und Werden
Es war einmal ein kleiner Baum, der wuchs zusammen mit vielen anderen Bäumen in einem großen Wald. Es war noch ein ziemlich kleiner Baum, sein Stämmchen war noch arg dünn und auch hatte er noch keine richtige Krone – überhaupt war es kein besonders hübscher Baum: seine Äste standen in seltsamen Winkeln ab und sein Stamm war knubbelig und krumm. Krumm war er vor allem, weil um ihn herum so viele große, starke Bäume waren, dass kaum Licht zu ihm herunter kam und das kleine Bäumchen bog und wand sich in seinem Wuchs, um je nach Jahreszeit noch ein kleines Fleckchen Sonne abzubekommen.
So vergingen die Jahre und im Winter schüttelten sich die großen Bäume und warfen den schweren, nassen Schnee herab auf das kleine Bäumchen so dass es sich bis zum Boden bog und im Frühling, wenn die herrlichen großen Eichen und Buchen um es herum ihre Blätterpracht voll entfaltet hatten, streckte und wand sich das kleine Bäumchen wieder vom Boden herauf auf der Suche nach ein bisschen Licht und in voller Bewunderung der herrlichen Kronen, zu denen es von so weit unten aufblickte.
Die großen Bäume um es herum aber schmunzelten und sprachen: „Kleines Bäumchen, was ist los mit Dir! Du bist ja zu einem vollen Bogen gewachsen – weißt Du denn nicht, dass wir Bäume aufrecht und gerade, immer der Sonne entgegen stehen? So wie Du gewachsen bist, weiß man ja nicht, was Krone und was Wurzeln darstellen soll – pass nur auf, dass Du nicht eines Tages am falschen Ende auszuschlagen beginnst!“
So neckten und spotteten die großen Bäume.
Aber das kleine Bäumchen lächelte und ließ es sich gefallen – denn wenn es auch krumm und gebogen war und so gar nicht wie ein rechter Baum auszusehen schien, so war es doch zufrieden und freute sich seines Lebens und schätzte sich glücklich in solch einem herrlichen Wald unter so wunderschönen Blätterkronen zu stehen und wenn es auch nicht viel Sonne abbekam, so ermöglichte ihm sein seltsamer Wuchs doch ungeahnte Blickwinkel und es sah und hörte vieles, was im Wald vor sich ging, von dem die großen Bäume mit ihren prachtvollen Kronen in luftigen Höhen keine Ahnung hatten.
Eines Tages kam ein großer Sturm. Der Wind pfiff und heulte und griff mit seinen kräftigen Pranken fest in die stolzen Kronen der herrlichen alten Bäume, packte sie mit eiserner Gewalt und riss sie aus ihrer Jahrhunderte alten Verankerung. Er warf sie über einander wie Streichhölzer und links und rechts stürzten die mächtigen Giganten hin und ihre Stämme barsten in splitternden Wunden. Und als der Wind weiter zog hinterließ er ein Schlachtfeld aus den zerbrochenen Leibern der einstmals so stattlichen Riesen die nun, übereinander geworfen, dem Verfaulen anheim gegeben den Waldboden übersäten.
Allein der kleine, krumme Baum war unversehrt geblieben. Nah an den Boden gedrückt, in seinen Bögen und Schleifen sich immer wieder auf die Erde stützend, war er gefeit geblieben gegen die Anfechtungen des Windes, die grausamen Hände hatten in seiner spärliche Krone nichts zu fassen bekommen und seine Zweige, die, so nah über den Boden hin kriechend, nie so recht gewusst hatten, ob sie Zweige oder Wurzeln sein wollten, hatten ihn fest und tief verankert.
Aber der kleine Baum blickte voller Trauer um sich und weinte um die herrlichen Bäume die dort geborsten und gebrochen lagen – all die schönen Giganten, zu denen er immer so aufgeblickt, die er stets so geliebt hatte.
Er weinte und weinte, jedoch der Sturm war weiter gezogen und die Wolken rissen auf und Sonnenstrahlen blitzten und strahlten hinab bis auf das trauernde krumme Bäumchen, das bisher immer so tief unten im Schatten gestanden hatte, und während es noch weinte und trauerte streckten sich seine Zweige und die Blätter sprossen und ohne es zu merken wuchs es heran zu einem herrlichen, bizarren, über den Boden hingewundenen, riesigen grünen Lindwurm aus Ästen und Laub.
Und als es alle Tränen vergossen hatte blickte es auf und sah, dass um es herum der Waldboden von neuem begann zu wachsen und dass auf den zerfallenen Leibern der einstigen Riesen neue zarte Keime sprossen und das Leben sich seinen Weg zurück eroberte. Und es sah, dass es weit und breit alles überragte, ja, dass all die kleinen Keimlinge bewundern zu ihm aufblickten.
Und da reckte das einstige Bäumchen seine Glieder und lies den sanft streichelnden Wind durch sein Gefieder fahren und es begann dem neuen, aufkeimenden Leben all die Geschichten zu erzählen die so tief in ihm steckten, von dem herrlichen Wald, der einst hier gestanden, von den wunderschönen Bäumen mit ihren herrlichen Kronen und von der ganzen einstigen zauberhaften Pracht und all den wunderbaren Dingen die es gesehen und mit jeder Geschichte wuchs ein neuer Zweig, und zu jedem Wort ein neues Blatt und das Gespinst aus Ästen und Grün zeichnete die Seele des Universums nach.
Die Spaziergänger aber, die vorbei kamen um durch den zerstörten Wald zu wandern, blieben voll Erstaunen stehen, als sie die weite Flur des aufs Neue sprießenden Lebens sahen, in dessen Mitte der Lindwurm sich über den Boden wand wie eine smaragdene Seeschlange im grünen Meer, und sie kamen näher und kletterten auf seinen dicken Leib, legten sich in seine Windungen und blickten auf in das sanft wogende grüne Blätterdach und so mancher erzählte, er könne schwören, er hätte das leise Flüstern des Baumes gehört.