Fukushima Zombies (Material)

 

Wie ist die stoische Ruhe zu begreifen, mit der sich die Massen von Menschen durch Irrsinnsgroßstädte Japans wie Moleküle eines nie versiegenden Stroms wälzen – egal ob Taifune, Tsunamis oder Godzillas über sie hinwegfegen, ein riesiger Organismus, der Einzelne zum bedeutungslosen Teilchen degradiert. Funktionieren, Ineinandergreifen, eine riesige Maschine, Autobahnen wie Schlagadern die sich mehrgeschössig durch Städte schneiden und Unmengen an kleinsten Teilchen transportieren. Daneben ein unglaubliches Gewirr von Licht, Lärm, Bewegung, Geschwindigkeit, Energievergeudung, Sinneseindrücke die einen in den Wahnsinn treiben – die sich vielleicht nur mit stoischer Ruhe ertragen lassen?

 

 


Was sind Zombies? Lebende Tote, sich noch bewegende Körper ohne bewegenden Geist, ferngesteuert durch einen fremden Willen, zweckgehorchend, gleichgeschaltet. Funktionieren als Lebensinhalt und Lebenszweck, die kleinste Einheit Mensch im Ameisenhaufen Tokyo dient dem großen Ganzen, ohne Exzess.


Was ist Atomkraft? Die ursprünglich „saubere“ Kraft, Wundermittel, Energie für alle, leuchtende Großstadtreklameexplosionen, die Nacht zum Tag, unbegrenzt, unerschöpflich, alles ist möglich, alles läuft, schneller höher weiter, Genie Mensch.

Aber was eigentlich passiert: Atome werden mit ungeheurer Gewalt aufeinander geschossen, verschmelzen oder zerbersten, unvorstellbare Energie wird frei, eine gerade noch zu kontrollierende Explosion mit gewaltiger Zerstörungskraft, Weltuntergang in der Petrischale, wohldosiert genutzt, das gebändigte Ungetüm. Wiederum Genie Mensch: Drachenbändiger, Weltbezwinger, forme die Wirklichkeit nach Deiner Vorstellung – Mensch!


Ist es nicht absurd, dass ausgerechnet eine im Gleichklang funktionierende Gesellschaft wie in Japan, innerhalb derer alles scheinbar reibungsfrei ineinanderfließt, zwar mit Tempo, aber mit einheitlichem Tempo, ohne absurde Richtungswechsel, ohne Zusammenstöße, pünktlich und genau, exzessfrei und störungsfrei, ausgerechnet diese Gesellschaft fast ihre komplette Energieversorgung dem wiederkehrenden Miniaturgau, dem sich wiederholenden kleinen Weltuntergang verdankt?

Dem Exzess hinter dicken Betonmänteln, im inneren Innersten der grauen Kugel, im Verborgenen, nach außen hin statisch und ruhig, unverrückbar, im Inneren der Weltenbrand, aber Moment – genau wie in den Menschen auch.

Mangawelt wird zur Realität, mit unglaublichem Lärm gedankenbetäubende Spielhöllen-Abgründe schlucken zu hunderten stupide Ablenkung suchende Arbeitsmüde die zu langsam dahintickernden silbernen Kugeln kindliche Bedürfnisse befriedigen, kinderpornographisch gestylte Püppchen servieren offen gaffenden Männern Kaffee auf verspiegelten Böden, Glitzer, Kitsch und Kram baumelt vom Handy der in grau schwarze Businesskleidung gehüllten Frau mit perfekter Haltung, perfekten Nägeln und perfektem Teint, im Katzencafe holt man sich für 3,50 die Stunde eine Runde Nähe ab.


Und die Stadt? Schneller höher weiter, lauter, bunter, alles ist möglich, alles ist erreichbar, neue Technologie, Fortschritt, Fortschritt, noch mehr, noch größer, noch unvorstellbarer, wer nicht mithält, wer nicht aushält springt halt aus dem Fenster oder wirft sich vor den Zug – Leistung ist das Einzige, was zählt.

Und daneben: die Ruhe, die Friedlichkeit, ein Tempel, ein Kirschblütenzweig, Ikebana, Origami, Meditation, Perfektion der Besinnung; ein Mönch kehrt langsam Spuren in den Kies, Wellen aus Stein, sanfte Gesänge, Wassertropfen, der Wind rauscht langsam in den Zweigen, ein sanfter Wind, wie ein leichtes „Schschscht! Ruhig! Gleich kommt’s“: die Ruhe vor der Explosion: Jeder Atomexplosion geht der Blitz voraus, dann die Ruhe, fast friedliche Ruhe, vor der Druckwelle und der Hitze, die alles niedermäht und vernichtet.

Und die japanische Gesellschaft? Negiert die Folgen, macht so weiter wie bisher, weiter funktionieren, weiter laufen, vor einem Tempel demonstriert ein Grüppchen Frauen am Jahrestag von Hiroshima für die Opfer der Verstrahlung – kaum einer ist interessiert.

Man trägt Mundschutz. Aus Höflichkeit. Aus Allergiegründen. Um sich nicht anzustecken, um andere nicht anzustecken. Geschätzte 70 Prozent der Japaner in Tokyo läuft freiwillig den ganzen Tag mit Mundschutz herum um fühlt sich keineswegs dadurch eingeschränkt – im Gegenteil. Sie fühlen sich dadurch sicher.

Sicher vor dem Leben?


Was kann Atomkraft und was ist der Preis, der Preis für unendliche Energie, für unendliche Möglichkeiten– was ist der Preis, den die menschliche Gesellschaft bezahlt, wenn der Körper schneller läuft als die Seele und was ist der Preis, den man zahlt, wenn man Kräfte ruft, die man nicht beherrscht? Vielleicht hat auch Japan verstanden, dass in der Konsequenz einer Entscheidung auch eine Stärke liegt? Ein Land das Kamikaze, Bushidō und Samurai hervorgebracht hat, das sich über normale menschliche Schwächen hinwegsetzt und die Perfektion, die vollendete Disziplin anstrebt? Oder ist es doch die gute alte Mär vom Zauberlehrling, die letztendlich Recht behält…

Was am Ende bleibt – ist nicht der Mensch. Was noch lange nach der Menschheit bleiben wird sind die in Blei gemantelten Ruinen der missglückten Versuche, den göttlichen Funken ruhrbar zu machen: Alles Denkbare wird einmal gedacht, hat Dürrenmatt gesagt, und das verführerisch Machbare wird gemacht, und wenn ich meine Hand nach dem Innersten strecke und es packe, dann tue ich es, weil ich es kann, weil ich MENSCH bin und weil ich nicht ANDERS kann.